Die Industrialisierung der Wahrheit

Im Prozess der Industrialisierung vergrößerte sich die Trennung zwischen dem Produktionsgegenstand und dem Arbeiter. Während vorher ein Schmied den gesamten Herstellungsprozess inklusive Verkauf direkt erlebte und bestimmte, hat der Arbeiter der Fabrik weniger direkten Kontakt mit dem hergestellten Gegenstand. Oft ist er für einen kleinen Teilprozess zuständig und hat keinerlei Berührungspunkte mit dem Endprodukt. Er stellt zum Beispiel die Achse für ein Automobil her. Dem Beitrieb und damit dessen Eigentümern ist er ein Dienstleistungserbringer. Er ist ein ersetzbarer Teil einer Produktionskette. Der Zweck wurde damit weiter vom Menschen entfernt und zum Produkt hin bewegt (und weiter zum Gewinn). Der Zweck einer Fabrik ist weiter vom Arbeiter entfernt als im Falle einer handwerklichen Schmiede.
Der Schmied ist nicht ohne Weiteres ersetzbar. Er ist mit dem Prozess identifiziert, nicht zuletzt sichtbar in seiner Namensgebung (Smith, Schmidt, Schmitt, usw.) Seine Arbeit ist überdies durch verschiedene Faktoren sinnnstiftend, u.A. dadurch, dass es nicht selten eine Ahnenreihe gab, diese Arbeit bereits ausgeübt haben. Zwischen seiner Arbeit und der des Fabrikarbeiters ist ein Unterschied in der Unmittelbarkeit feststellbar. Der Fabrikarbeiter ist austauschbar geworden und wurde funktionalisiert. Aus dem Grund ist seine Arbeit deutlich weniger unmittelbar sinnstiftend. Sie ist indirekt und unpersöhnlich. Mit der Wissenschaft verhält es sich ähnlich.

Die Wissenschaft ist die gesellschaftliche Wahrheitsinstitution. Sie wurde industrialisiert und nach industriellen Prinzipien verändert. Sowohl der experimentelle Wissenschaftsbetrieb, als auch die tägliche Realität des Akademischen sind unpersönlich und mittlebar geworden. Der experimentelle Wissenschaftsbetrieb ist insofern unpersönlich, als dass er den Einzelnen in seiner Subjektivität zunehmend aus der Causa Wahrheitsfindung ausklammert. Es ist egal, wer die Ergebnisse macht, solange die Ergebnisse vorliegen. Der Wissenschaftler wird damit, wie der Arbeiter der Fabrik, funktionalisiert und austauschbar. Es besteht immer öfter keine einzigartige Beziehung zwischen dem Wissenschaftler und dem Forschungsgegenstand.
Die Ergebnisse werden dann in ein maschinistisches System eingepflegt, das seinerseits wieder hochgradig industrialisierbar ist. Ein unpersönlich-rationales Wissenssystem erlaubt eine deutlich höhere Industrialisierbarkeit als ein individuell-existentiell-integrales System. Gleichzeitig ist Zweiteres deutlich menschlicher als ein Ersteres. Hier gibt es, wie auch an anderen Stellen, eine Diskrepanz zwischen dem Wohlergehen des Einzelnen und dem Wachstum des Systems.
Messmaschinen und Kollaborationskonstrukte tragen zur Austauschbarkeit des Einzelnen bei und vergrößern die Entmenschlichung. Die Wahrheit wird in Wissensfabriken industriell produziert. Dazu sind große Kollaborationsmaschinen und komplexe Produktionsmaschinen (Messinstrumente) nötig. Ich möchte an diesem Punkt nicht sagen, dass es falsch ist, kollaborativ nach Warhheit zu suchen oder, dass es falsch ist, Prozesse zu standardisieren. Es geht vielmehr um den Grad der Menschlichkeit, der in all dem präsent ist. Ich kritisiere eine zunehmende Entmenschlichung, die nur wenigen dient und viele andere zu funktionalisierten und austauschbaren Bauteilen eines gesichtslosen und entmenschlichten Konstruktes macht. Eine Entmenschlichung, die ein Symptom der oft sichtbaren gesellschaftlichen Dynamik der "Reibungslosmachung" ist, die den einzelnen Menschen zu austauschbar aneinander vorbeigleitenden Atomen macht und nicht zu voll entfalteten Menschen. Es ist die Dynamik einer Gesellschaftsstruktur, die nicht mehr durch die Frage "Was ist gut für den Menschen?" sondern durch die Frage "Was ist gut für das Fortbestehen und das Wachstum des Systems?" bestimmt wird.

Das so produzierte Wissen ist transferierbar, solange die an der Transaktion beteiligten Parteien die gleichen Glaubenssysteme haben. Ähnlich wie ein Geldschein ein transferierbarer Wert für Menschen des gleichen Glaubenssystems (Ich glaube, dass dieser Geldschein soundso viel wert ist) darstellt, ist das produzierte Wissen transferierbar für diejenigen, die in der passenden mentalen Welt dafür leben. Wissenschaftler können sich somit Wissen zuschicken. Insofern ähnelt das produzierte Wissen einer Ware, die verteilt werden kann. Es ist in dem Sinne eine Wissensindustrie. Es gibt auch Wissen, das nicht transferierbar ist. Es gibt Wissen, das Erfahrung und Subjektivität benötigt, oder das in andere innere Landkarten passt als diejenigen, die gerade gesellschaftlich präsent sind. Solch ein Wissen lässt sich von der aktuellen Wissenschaft nicht erzeugen. Es ist nicht transferierbar. Wie man Fahrrad fährt ist zum Beispiel nicht transferierbar. Fahrrad fahren lernt man nicht aus einem Buch. Ein Buch kann unterstützen aber ich kann niemandem das Fahrradfahren nur erklären, sodass die Person es dann ohne die passende Erfahrung kann. Der Geschmack eines Gerichtes ist nicht ohne Weiteres übertragbar, vor Allem nicht mit den Mitteln der Wissenschaft (Poesie vermag so etwas zu vermitteln, aber das ist ein anderes Thema). Insofern befasst sich die Wissenschaft mit fungiblem Wissen, mit austauschbarem Wissen. Sie produziert, in gewisser Weise, ähnlich einer Fabrik, Wissen. Dabei hat sie, ähnlich wie die Fabrik jedoch eine Tendenz zur Entmenschlichung und das ist ein Problem:

Das Wissen wird zu einem unpersönlichen Kantinenwissen, zu einer gesichtslosen, austauschbaren Ware, der es an Subjektivität fehlt. Das ist an sich erst einmal kein großes Problem, solange es nicht den Anspruch darauf erhebt, die einzig richtige Form der Wissenserzeugung zu sein. Doch das passiert in der Gesellschaft in dem Sinne, dass die Wissenschaft die Institution für Wahrheit ist. Ihr produziertes Massenwissen wird von der Gesellschaft als Warheit anerkannt und geglaubt. Die Richtigkeit der Regularitäten und Mechanismen, die die Wissenschaft dabei herausfindet stelle ich nicht infrage, im Gegenteil. Sie sind oft richtig unf nützlich. Was ich problematisiere, sind die impliziten Herangehensweisen an die Welt, die mit diesem Wissen verbreitet werden (Wahrheit aus Zweifel und Ratio, Maschinenhaftigkeit der Realität, Maschinenhaftigkeit der Wissenserlangung, Fehlende Subjektivität und Inspiration). Außerdem kritisiere ich die Entmenschlichung, die der Wissenschaft, die ich kenne und schätze, schadet. 
Der Wissenschaftler wird zum entmenschlichten, austauschbaren Fabrikarbeiter, der nur noch in geringem Ausmaße mit der vollen, integralen, existentiellen Brisanz der Thematik in Kontakt ist. Der einstige Schmied neuer Ideen wird zum Büroarbeiter eines gesichtslosen Konstruktes.
Die Akademik verödet und verliert an Geist, denn sie verliert an Menschlichkeit. Damit verliert sie das Fundament auf dem sie steht. Die Geister verlassen die Akademik und zurück bleiben leere Menschen, die einem verstarrten Konstrukt dienen, das auf dem Kredit der Ideale vergangener Zeiten weiterläuft. 

Also, lasst uns persönlich werden, uns kennenlernen, in Kontakt kommen. Lasst uns den Wissenschaftsprozess subjektivieren. Lasst uns den gesamten Menschen in den Prozess einbeziehen und auf tatsächlichen menschlichen Austausch bauen, weniger auf maschinenhaft normierte Informationsaustauschprozesse. Der Mensch kommt der Wahrheit nicht näher, wenn er eine Maschine wird. Der Mensch ist in seiner vollständigen Lebendigkeit das beste Instrument für die Annäherung an das, wonach seine Neugier ihn drängt, das es gibt. Es gibt kein Messinstrument und kein Konzept, das den Menschen in seiner Ganzheit übertreffen würde.

Der Mensch ist in seiner vollständigen Lebendigkeit das beste Instrument für die Annäherung an das, wonach seine Neugier ihn drängt, das es gibt.

 

 

 

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